Kaum locken die ersten Sonnenstrahlen, sind die Straßen wieder von Schnee und Eis befreit und Handschuhe keine Pflichtbekleidung mehr, schon geht sie los, die Fahrradsaison. Insbesondere in der Coronazeit ist ein regelrechter Boom auf motorisierte und unmotorisierte Zweiräder ausgebrochen und dennoch war die (Vor-)Freude auf die neue Mobilität vielerorts getrübt von langen Wartezeiten und teilweise horrenden Preissteigungen. Woran liegt das?
Die Antwort findet sich in der Supply Chain.
Stellen wir uns vor, ich hätte im Fahrrad-Onlineshop meines Vertrauens ein Auge auf ein sportliches Modell für die neue Saison geworfen. Ich habe konkrete Vorstellungen über Beschaffenheit und Features, möchte aber weder im Komfort noch in der Robustheit Abstriche machen. Zudem bin ich ein Gewohnheitstier und setze auf Qualität. Ich versuche außerdem bewusst einzukaufen und setze auf regionale Erzeugnisse. Kurzum: ein fertig montiertes Modell wird diesen Ansprüchen vermutlich nicht gerecht werden. Ich stelle mir also im Konfigurator des Webshops mein Wunschmodell zusammen, der Rahmen wird in der Region gefertigt, Schaltung und Anbauten entsprechen meinen Qualitätsansprüchen. Ich werde stutzig: rote Ausrufezeichen und Lieferzeitenversprechen in der Zukunft signalisieren mir deutlich: ich werde wohl Wartezeiten einkalkulieren müssen. Insbesondere im Bereich der Anbauteile signalisiert mir der Shop Wartezeiten. Mit dem Wissen um die gestiegene Nachfrage seit Corona, nehme ich das Warten in Kauf.
Fahrräder sind zwar zum Sinnbild einer gesteigerten Nachfrage nach Gütern in der Coronazeit geworden, gleichwohl ist der Bedarf aber noch in vielen weiteren Bereichen gestiegen.
Wir leben in einer Zeit, in der Rohstoffe und insbesondere fossile Brennstoffe knapp werden. Die Stahlerzeugung ist ein Paradebeispiel der Nutzung fossiler Brennstoffe. Zwar konnte unlängst ein schwedisches Unternehmen ersten, „grünen“ Stahl produzieren, bis dieser aber in der Breite verfügbar ist, wird es wohl noch eine Weile dauern.
Corona hatte auf die Stahlerzeugung und -verarbeitung in mehrfacher Hinsicht einen Effekt: die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Produktionsstätten fielen aufgrund von Krankheit aus, gleichzeitig stieg aber die Nachfrage nach Produktionsgütern etwa durch die im Lockdown das Zuhause aufwertende Bevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt waren die durch den Krieg in der Ukraine gestiegenen Energiekosten in der Kalkulation noch nicht berücksichtigt, dennoch hat auch die auf eine enorme Energie angewiesene Industrie wie die stahlverarbeitende selbstverständlich einen hohen Einfluss.
Der Bullwhip-Effekt
Tatsache ist: die Engpässe in Personal und erschwerten Bedingungen in der Produktion haben auch Einfluss auf die Fertigstellung meines Fahrrades. So ist aktuell beispielsweise die Produktion von Kettenblättern aus Stahl im Rückstand. Im Shop-Konfigurator sowie per Mail wurden mir alternative Modelle aus Aluminium vorgeschlagen, dennoch möchte ich auf das von mir vorgesehene Material zurückgreifen, wohl wissend, dass das Produkt derzeit nur schwer zu bekommen ist. So wie mir geht es auch vielen anderen Kunden. Sie wünschen sich ein spezielles Bauteil aus Stahl oder Carbon, welches aber gerade nicht vorrätig ist. Kenner wissen dass die Wahl des Materials, Auswirkungen auf die ganze Kurbelgarnitur und letztlich die Schaltung hat. Ein vermeintlicher Nebenschauplatz, wird somit zu einer systemischen Entscheidung.
Ich habe verstanden, dass die Verfügbarkeit von Produkten mit Gelingensfaktoren ihrer Produktion zusammenhängen. Gleichzeitig ärgere ich mich über die vermeintliche Alternative, die mir für meine Anforderungen wenig nützlich erscheint. Ich entscheide mich also zu warten.
Warum sind aber bestimmte Produkte noch immer vorhanden, die unter ähnlich widrigen Produktionsbedingungen hergestellt werden und zu deren alternativer Nutzung mir im Laden geraten wurde?
In der Theorie zur Supply Chain ist dies ein Ausdruck des sogenannten Bullwhip- oder Peitscheneffektes in der Logistik. Dieser beschreibt Nachfrageschwankungen entlang mehrstufiger Lieferketten. Der Effekt des sich Aufpeitschens entsteht aufgrund falscher oder fehlender Kommunikation im Handel und nimmt vom Endkunden in Richtung der Hersteller immer weiter zu: Aufgrund der gesteigerten Nachfrage der Endkunden und des Einzelhandels oder E-Commerce (zum Beispiel nach Kettenblättern) erhöht der Großhandel den Sicherheitsbestand. Um erneute Lieferengpässe zu vermeiden, werden ebenfalls größere Mengen in der Produktion bestellt und wiederum produziert. Da es sich in der Regel um langwierigere Prozesse handelt, stehen hier zeitlicher Fortschritt und tatsächlicher Bedarf in Konkurrenz. In der Folge führt die einseitige Fokussierung auf eine (veraltete) Nachfrage zu einer Mehr- und letztlich sogar Überproduktion. Diese wiederum führt zu vollen Lagern, durch Abnahmeverträge dann auch im Groß- und Einzelhandel. Der Bedarf ist zwar nicht mehr vorhanden, die Ladenhüter belegen aber den Platz für Neuware oder müssen erstmal durch ihren Verkaufserlös den Einkauf neuer Ware ermöglichen.
Für den Endkunden werden die Produkte zwar als verfügbar angezeigt, jedoch nicht als wirkliche Alternative wahrgenommen.
Lieferung und Logistik als Herausforderungen für den Handel
Ein weiterer zentraler Aspekt der Logistik von Gütern, der auf dem Weg zum Endkunden eine Rolle spielt, ist ihr Transport.
Ich erhalte vom Kundenservice meines Onlinehändlers einen Anruf: die Bestellung meiner Kurbelgarnitur beim Hersteller konnte ausgelöst werden, es wurden genügend Teile produziert. Man erwarte eine Lieferung binnen der nächsten zwei Wochen. Ich gedulde mich also noch mindestens zwei weitere Wochen, bis die Einzelteile meines Rades im Shop verfügbar sind.
Ein Großteil der heute im Handel erhältlichen Produkte wird in Asien gefertigt, die dann meist in Containerschiffen über das Meer zu ihrem Ziel oder zur Weiterverarbeitung transportiert werden.
Daraus ergibt sich ein weiteres logistisches Nadelöhr: ein in der Erinnerung noch sehr lebendiges Beispiel von zweifelhafter Bekanntheit ist der Frachter “Ever Given”, der auf dem Weg von Shenzen nach Rotterdam im Suezkanal havarierte. Der Suezkanal als zentrale Meerhandelsroute auf dem Weg zwischen Asien und Europa wird täglich von großen und kleinen Schiffen passiert. Wenn er denn befahrbar ist. Was zunächst als irrwitziges Wendemanöver anmutete und vermutlich auf eine Mischung aus den Umweltbedingungen, technischen und menschlichen Fehlern zurückzuführen war, war in erster Linie ein “Frachter-gewordener“ Lieferengpass. Nicht nur die Ware der “Ever Given” war betroffen, wochenlang war der Kanal für den Frachtverkehr unpassierbar. In der Folge führte dies weltweit zu erheblichen Transport- und schwer planbaren Lieferverzögerungen.
Für die Verfügbarkeit von Produkten und ihre Logistik blieb eine Erkenntnis: auch in einer global vernetzten Welt können (vermeintlich kleine) Hindernisse den Güterfluss empfindlich stören und es sollten frühzeitig alternative Lösungen in die Planung einbezogen werden. Die globale Verteilung von Produktion, Lagerung und Verkauf bedeutet folglich auch, dass potenziell alle aufeinander aufbauenden Arbeitsschritte alternativer Lösungen bedürfen. Die Lieferkette ist also enorm abhängig von einer transparenten Planung, um mögliche Alternativen in den Gliedern aufzuzeigen.
In der Zwischenzeit sind alle Einzelteile des Rades eingetroffen und das Bestellportal des Onlinehändlers zeigt mir an, dass ich nun auf die Montage warten kann.
Ein fertiges und ein gutes Produkt
Der Handel ist abhängig von verfügbaren Produkten, er ist aber auch ein stückweit verantwortlich, dass diese Produkte dem Bedarf und den Ansprüchen der Kunden in ihrer Qualität entsprechen.
Die Relevanz der Supply Chain und die Sensibilität der Kette für Umweltfaktoren konnte bereits auf verschiedenen Ebenen nachvollzogen werden. Aspekte, die in diesem Zusammenhang enorm an Bedeutung gewinnen, sind Fragen der Nachhaltigkeit. So können die Umstände der Produktion von Gütern, die Länge der Lieferkette zwischen Produktion und Verkauf ebenso hinterfragt werden, wie die Mittel ihres Transports. Fragen wirft dabei sowohl die Angemessenheit des Einsatzes natürlicher Ressourcen auf als auch ethische Aspekte, die in der Produktion, Lieferung und letztlich dem Verkauf von Gütern zum Tragen kommen. Unternehmerische Nachhaltigkeit berücksichtigt alle Ebenen der Supply Chain und bedarf sorgfältiger Planung sowie der Berücksichtigung von Alternativen. Dazu sollte Klarheit und Transparenz über Ressourcen und Güter und deren Weg durch die Supply Chain geschaffen werden.
Der Webshop könnte hier mit verschiedenen Services Abhilfe schaffen: Dashboards informieren über den Fortgang der Bestellung von der Konfiguration bis zur Lieferung, inklusive möglicher Lieferverzögerungen. Ein Konfigurator zeigt mir (mittels KI) automatisiert alternative Produkte an. Wenn es die Datenbasis hergibt, könnte ich Lieferwege oder Transportmittel und meinen CO2-Footprint im Bestellprozess berücksichtigen.
Diese Transparenz werde ich honorieren. Das Wissen um Alternativen in der Konfiguration, die Orte der Fertigung und die Länge der Lieferkette können letztlich auch meine Kaufentscheidung beeinflussen. Das Wissen um die Zeit, die das Produkt von seiner Konfiguration bis zur tatsächlichen Verfügbarkeit braucht, ebenso.
Die Supply Chain und ihre Schwankungen hat also entscheidende Auswirkungen auf den Handel. Auch und insbesondere im E-Commerce werden Kundeninformationen und alternative, individualisierte Zugänge relevanter.
Ich habe verstanden, wie die Glieder der Supply Chain zusammenhängen und wieso mein Kettenblatt ein sensibles Teil der Lieferkette ist.
Tatsache ist nun: Für mich kann die Fahrradsaison jetzt endlich wieder beginnen.
Bei diesem Blogbeitrag handelt es sich um einen Auftaktartikel rund um das Thema Supply Chain Management. In kommenden Beiträgen werden verschiedene Aspekte unter anderem E-Commerce, Nachhaltigkeit sowie Partnersoftware, die sich im Bereich Supply Chain anbietet, behandelt.
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